Samstag, 21. April 2012

Von der Suche nach dem richtigen Platz

Plätze gibt es viele im Leben: den Platz zum Wohnen und Schlafen, den Platz zum Arbeiten, Plätze zum Austoben und zur Ruhe kommen, den Platz an der Seite der oder des geliebten Menschen. Jede Suche danach gleicht einem Wagnis, wissen wir doch nie genau wo wir am Ende landen. Oftmals ergibt sich auch das eine aus dem anderen, wenn wir zum Beispiel in eine Stadt ziehen, in der die Arbeit oder der/die Liebste sitzt. Aber was, wenn wir die freie Wahl hätten? Schauerliche Vorstellung!

Wir in der westlichen industrialisierten Welt sind heute doch weitestgehend frei in der Entscheidung, an welchem Ort der Erde wir unser Leben verbringen wollen. So viel, wie uns dieses Privileg vergönnt ist, so wenig wissen wir und auch ich oft damit anzufangen. Zu weit, zu heiß, zu fremd, zu "anders" wirken oft die anderen Länder und Orte, verlocken damit und verschrecken zugleich. Im Ergebnis verbleiben wir sodann bis auf einige Reisen meistens in der uns vertrauten Umgebung und wagen nicht den endgültigen Sprung in eine neue Umwelt, die ebenso sehr unsere Heimat werden könnte - vielleicht.

Vor einiger Zeit, einer gefühlten halben Ewigkeit, stellte sich mir diese Frage zum ersten Mal in derartiger Intensität: Wo will ich eigentlich leben? Ich verbrachte damals nach dem Abitur ein Jahr für einen Freiwilligendienst in Südamerika und spielte zwischenzeitlich ernsthaft mit dem Gedanken, auszuwandern. Im Juli 2005 kam ich zurück nach Deutschland, voll von Eindrücken beiderseits der Grenzen, nicht wissend wo eigentlich mein Platz auf der Erde für die nächsten Jahre und Jahrzehnte sein sollte. Es fühlte sich in etwa so an (Auszug meiner Rundmail vom August 2005):

  Zwischen den Welten

„Guten Tag, herzlich willkommen an Bord der Lufthansa-Maschine .... Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug“. Es ist der 25. Juli, 14.30 Uhr; die Nachmittagshitze senkt sich über den Flughafen von Carracas, den ich gerade verlasse, und damit das letzte Stückchen Südamerika unter meinen Füßen. Nun tragen sie mich hinein in eine andere, mir von irgendwoher bekannte und zugleich fremde Welt. Die blonden Stewardessen in ihren dunkelblauen Kostümen lächeln mir freundlich entgegen, am Eingang erwartet mich die Frankfurter Rundschau; innen reden plötzlich alle nur noch Deutsch und ich weiß eigentlich gar nicht, wie mir geschieht.
Die letzten Tage in Ecuador waren zwiegespalten. Schön, durch die bis zum Schluss gleichbleibende unglaubliche Herzlichkeit meiner Gastfamilie; ich habe es noch einmal genossen, in ihrem Kreis sein zu dürfen, zu teilen, zu albern, zu lachen, zu weinen, zu umarmen und umarmt zu werden. Gleichzeitig war es furchtbar schwierig, traurig, angespannt, ein Daraufhinwarten auf den Tag des Abflugs, immer im Bewusstsein die bevorstehenden Abschiede und die Unsicherheit, was mich in den nächsten Wochen auf der anderen Seite dieses großen Ozeans erwarten wird. Und schließlich bin ich gegangen. Niemand sagte mir adios, sondern vielmehr hasta pronto – bis bald. 
Mit dieser Hoffnung im Herzen begebe ich mich auf die letzte Etappe meiner Reise. Der letzte venezolanische Zipfel unter mir verschwindet schon nach wenigen Minuten, von jetzt an nur noch das endlos blaue Meer..die Zeit scheint still zu stehen und schreitet doch voran..irgendwann wird es Nacht und nach 4 Stunden wieder hell, eine kurze Nacht war das, und schon fliegen wir den Frankfurter Hochhäusern entgegen, wie sie dort in den Himmel ragen wie eh und je, so als wären wir niemals weggewesen. Zollbeamten mit mürrischen Gesichtern lassen mich widerstandslos und ohne jeden Kommentar in meine Heimat einreisen, in der ich vorsichtig die ersten Schritte tapse, umringt von immer mehr blonden Menschen, die meine Sprache sprechen, vertraut und fremd zugleich, der ohne Vorwarnung und ganz plötzlich einfach so aufspringenden Ausgangstür entgegen. Damit hat das Märchen ein Ende. Auch ganz plötzlich und einfach so. Als hätte man soeben das Kind von der Nabelschnur seiner Mutter getrennt, so gibt es nun keine Verbindung mehr zwischen dem, wo ich nun stehe, und dem, wo ich herkomme. Zu verschieden sind die beiden Welten, und kaum kann ich fassen, dass sie sich auf ein und demselben Planeten befinden sollen.
Mein neues Zuhause ist groß. Riesig im Vergleich zu den Bambusbaracken der Küste oder den putzigen einstöckigen Häuslein inmitten der Anden; ich meine mich zu verirren. Warum ist alles so ordentlich? Die Wände so kerzengerade? Wo die Ameisenspuren an Wänden und Tischen, die juckenden Flöhe in meinem Bett, die ewig gackernden Hühner im Garten? Alles perfekt. Tagelang suche ich vergeblich nach dem so vertrauten Klopapiereimer und vergesse dafür die Anschnallgurte im Auto. Dem Auto, das nach drei Jahren noch immer wie neu duftet, in dem nichts klappert, die Kupplung kein herzzerreißendes Quietschen ausstößt, kein Metall am Rosten, kein Spiegel zerbrochen, kein Polster zerschlissen ist. Alles perfekt. Wir fahren einkaufen. Wie hatte ich mich auf die Schokolade gefreut, lieber Himmel; nun offenbart sich mir die gesamte Vielfalt und Einfaltskunst der gelobten Hersteller, und mir vergeht im Angesicht der neuerlichen Perfektheit tiptop eingeräumter und sortierter Regale ganz mir nichts dir nichts der Appetit. Und erscheint erst wieder beim Anblick der frisch aus Südamerika importierten, braun verschrumpelten Granadilla-Früchte in unserem Kühlschrank. Das war zuviel für den Anfang – Pause.
Sei es Tag oder Nacht, ich schließe die Augen und befinde mich in Ecuador. Zurück unter der hoch stehenden Äquatorsonne inmitten der grünen Berge, in denen es nach Maisfeldern duftet und den unverkennbaren Eukalyptusblättern, als Zunder zum Kochen verwendet über offenem Feuer. Zu hören nichts als das Gezwitscher der Vögel, die Sensen der Bauern, das Rascheln der Bäume, das Zirpen der Grillen in den sich im Winde wiegenden, von der Sonne verblichenen Gräsern. Im nächsten Moment liege ich im feinen weichen Sand, vor meinen Füßen entscheiden sich die Ausläufer der Wellen, mit weißer Gischt beschmückt, zum Rückzug; meine Augen tun es den zum Fischfang sich herabstürzenden Pelikanen gleich und versinken in der Bläue des endlosen Meeres. „Träumst Du?“ Eine mir bekannte Stimme erweckt mich aus meinem kleinen Ausflug und ich finde mich wieder in unserem Reihenhausgärtchen, die Nachbarskatze zu meinen Füßen. Die Mädchen von nebenan spielen wieder Verkaufslädchen, während die Mütter sich verständigen über die nächste Verabredung ihrer Kinder zum Tennis und den neuesten Pürierstab in ihrem Küchensortiment. Aus irgendeinem Grund warte ich vergeblich auf eine spanische palabra, die, so meine ich, aus reiner Selbstverständlichkeit doch irgendwann einmal erklingen und dem Traum, in dem ich durch deutsche Supermarktregale laufe, in makellosen Autos fahre und die krummen Hauswände vermisse, ein Ende bereiten müsse.
Kurz und gut hätte ich die Eindrücke auch so zusammenfassen können: Langweiliges, schnödes Deutschland - irrsinnig spannende weite Welt! Ich frage mich manchmal, was passiert wäre, hätte ich das Leben in Europa tatsächlich gegen ein Leben in Ecuador getauscht. Wäre ich dann jetzt glücklicher als hier? Befreiter von all den Zweifeln und Zukunftsängsten? Gelassener vielleicht, ein anderer Mensch...?

Niemand kann mir diese Frage beantworten, doch ich erinnere mich an einen oft gebrauchten Satz, der, so meine ich, viel Wahres enthält: Wo auch immer wir hinziehen und reisen, haben wir dabei immer uns selbst im Gepäck. Der Weg zum Erwachsensein führt also nicht zwangsweise über die Wahl des richtigen Ortes - oder doch? Orte können prägen, soviel steht fest. Und ein jeder von uns hegt andere Prioritäten, andere Ansprüche an den vermeintlich besten Ort zum Wohnen, Leben, Glücklichsein. Vermutlich gibt es ihn auch nicht, den perfekten Ort. Ebenso wenig wie ich mir "den einen" vollkommenen Partner vorstellen mag, glaube ich, dass wir an vielen Orten ein gutes Zuhause finden können, ja sogar müssen, sind wir doch vielmehr gezwungen, ständig flexibel zu bleiben, bereitwillig jederzeit im Ausland zu arbeiten, und sei es auch wochen- und monatelang fern der eigenen Familie. Und doch bleibt es eine zentrale Lebensaufgabe. Heimat, wo steckst du?

De-platzierte Grüße, C.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen